Nach über 50 Jahren…

…habe ich in diesem Sommer eine Reise in die Vergangenheit unternommen.

Im Januar 1966 sind die Eltern mit uns drei Kindern aus Oberschlesien in die DDR ausgereist. Zu dieser Zeit waren schon sehr viele deutschstämmige Familien aus Oberschlesien in Richtung Westdeutschland ausgewandert. Das Verfahren der Ausreise in den Westen zog sich bei Leuten, die kein Geld zur Bestechung von Beamten in den Behörden auf der Kante hatten, über Jahre hin.  Auswanderung in die DDR dauerte zwar auch, ging aber schneller. Vater war als Grubenretter 1960 in Zwickau zum Einsatz gekommen und wurde dort angesprochen, ob er nicht mit der Familie übersiedeln möchte. Nach fast sechs Jahren war es dann soweit. Mit nicht ganz 11 Jahren kam ich in eine völlig neue Welt. Durch die Eltern, Oma und Opa verstand ich zwar deutsch, aber mit dem Sprechen war es nicht weit her. Verschlimmert wurde das Sprachproblem dadurch, dass wir nicht wie ursprünglich vorgesehen nach Zwickau, sondern in die Gegend von Klingenthal eingewiesen worden waren – dort spricht man vogtländischen Dialekt. Meine Mutter meinte lange Zeit, sie wäre irgendwo in Frankreich gelandet, denn deutsch klang für sie anders 😉 . Nachdem ich noch das erste Schulhalbjahr in Pyskowice absolviert hatte, wurde ich im Februar, zu Beginn des zweiten Halbjahres in die vierte Klasse der Polytechnischen Oberschule Zwota aufgenommen. Während sich der Klassenlehrer, Herr Bergel, andere Lehrer und einige Schüler bemühten, mich bei der Integration zu unterstützen, gab es auch einige unschöne Momente, in denen mir offene Feindschaft entgegentrat. Das wäre aber ein eigenes Thema, wenn auch heute leider wieder sehr aktuell.

Pyskowice (Peiskretscham) ist ein kleines beschauliches Städtchen inmitten des Oberschlesischen Industriezentrums um Bytom (Beuthen), Zabrze (Hindenburg), Kattowice (Kattowic) und Gliwice (Gleiwitz). Die Arbeitgeber mit den meisten Arbeitsplätzen sind entweder in der Chemiebranche oder der Kohle- und Stahlindustrie zu finden, wobei die Stadt Pyskowice hauptsächlich ihre Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt hatte.

Der Rathausplatz ist ein zentraler Punkt in der Stadt und immer sehr gepflegt.

Besonders schön finde ich die Blumenarangements in verschiedenen Formen.

Schräg gegenüber vom Rathaus, hinter einer Häuserfront, befindet sich die gotische, katholische Pfarrkirche St. Nikolaus aus dem 15. Jahrhundert. Sie ist das älteste Bauwerk der Stadt. An und im unmittelbaren Umfeld der Kirche befinden sich verschiedene Grotten und Heiligenstatuen, die mich bereits als Kind faszinierten.

Leider war das Gotteshaus geschlossen, so konnte ich nur durch die Scheibe der inneren Tür fotografieren.

Ich kann mich erinnern, von hier oft zu meiner Tante nach Zabrze (Hindenburg) mit dem Zug gefahren zu sein. Viele Züge fuhren damals noch unter Dampf und die Reise war immer ein riesiges Erlebnis, da ich alleine reisen durfte.

Aber wie in Deutschland auch, sind in Polen viele Bahnhofsgebäude ihrem Schicksal überlassen und werden als solche im Bahnverkehr nicht mehr genutzt.

Neben dem Besuch einiger Stätten, wo ich als Kind meine Zeit verbracht und wir auch gewohnt hatten, war der Visite eines Ortes besonders emotional.

An dieser Schule wurde ich 1961 eingeschult.

Es war in Pyskowice der erste Schulneubau nach dem Krieg und die Schule war für damalige Verhältnisse sehr modern und komplex. Mit meiner Klasse gehörte ich zu den ersten Schülern, die hier unterrichtet wurden.

Neben den tollen Außenanlagen mit Fußball- und Voleyballplatz befindet sich in dem Anbau, im ersten Stock, eine Sport- und im Erdgeschoss eine Schwimmhalle. Dort habe ich Schwimmen gelernt 😉

Auf der Fläche des Volleyballplatzes wurde im Winter immer eine Eisfläche angelegt. Hier habe ich zur „Freude“ meiner Mutter beim Eishokeyspiel so manche Schuhe lädiert. Wir hatten damals nicht besonders viel Geld und neue Schuhe waren einerseits eine „Wertanlage“ und andererseits nicht sonderlich haltbar – schon gar nicht waren sie für Schlittschuhe gemacht. Meine Schlittschuhe hatten vorn und hinten Klemmvorrichtungen, die für die Sohlen und Absätze der Schuhe das blanke Gift waren.

In dem Kiosk konnte man neben Schulheften, Bleistiften und anderen Dingen des Schulbedarfs auch kleine Naschereien kaufen. Da gerade Ferien waren, war der „Sklepik“ bei meinem Besuch geschlossen.

Auch wenn sich die Schulleiterin an vielen Stellen eine Modernisierung ihrer Schule wünscht, sind die Klassenzimmer technisch doch recht modern ausgestattet.

Beamer und interaktive Tafeln sahen wir in fast allen Klassenräumen.

Bei den Fremdsprachen steht die englische Sprache im Vordergrund, aber auch der Deutschunterricht findet an der Schule für interessierte Schüler statt.

Möglicherweise werde ich nächstes Jahr nochmals hinfahren, um die Schule in der Schulzeit zu besuchen und in der Chronik zu stöbern. Die Direktorin der Schule, Frau mgr. Jolanta Dąbrowska, hat mir das angeboten.

Als Kind war ich nie dort,  ich hatte mir den Besuch dieses in der Weltgeschichte so bedeutenden Ortes als weiteren Höhepunkt bei dieser Reise unbedingt vorgenommen.

Leider war bei unserem Besuch das kleine Museum am Sender Gleiwitz geschlossen. Neben dem geschichtlichen Hintergrund ist auch der Sendemast beeindruckend.

Die Holzkonstruktion des Sendemastes, einschließlich Antenne mit eine Gesamthöhe von 118 Metern ist eine ingieneurtechnische Leistung, die durchaus Beachtung verdient.

Es ist derzeit der höchste Holzturm der Welt und wird noch von Telekomdiensteanbietern, Rettungsdiensten und dem Metropolnetz der Region genutzt.

Insgesamt waren es drei interessante Tage, die mich sprachlich gefordert haben und an denen ich sowohl Altes wieder-  als auch Neues neu entdecken konnte. Leider kenne ich die Namen meiner damaligen Mitschüler nicht mehr und konnte deswegen auch nicht nach ihnen forschen. Mein Freund Kristof, das habe ich von den Bewohnern seines Elternhauses erfahren, ist in den späten sechziger Jahren „nach Deutschlaund ausgefahren.“ Auch hier ist die weitere Spur verloren.

Trotz alledem, es tat gut, nach so vielen Jahren dort gewesen zu sein.

Eine gute Zeit wünscht Micha – Der Brotbaecker

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5 Antworten zu Nach über 50 Jahren…

  1. Brigitte schreibt:

    Das war jetzt für mich sehr interessant, denn meine Mutter stammte aus Leobschütz/OS. Prompt bin ich sofort abgewandert und habe mir die Ortsstammbücher angesehen. Um zu erforschen, ob es da noch Verwandte gibt. Die Einzige, die das noch wissen konnte, das war meine Tante Hilde in Australien. Sie war die Letzte ihrer Familie und verstarb vor 4 Jahren. Meine Mutter ist schon 1984 verstorben, ziemlich jung.
    So eine Spurensuche wie du sie jetzt durchgeführt hast – wobei du ja noch Erinnerungen hast – das möchte ich auch gerne tun.
    Danke dir für diesen Bericht, der hat mich richtig angespornt, das endlich auch in Angriff zu nehmen.

    Herzliche Grüße, Brigitte

    • Ich habe mit dieser Reise leider schon viel zu lange gewartet. Vor Jahren wollte ich mit meinem Onkel hinfahren, heute kann er aus gesundheitlichen Gründne nicht mehr 😦 Andere Verwandte, die mir hätten noch verschiedene Dinge vor Ort zeigen und mit Hintergründen erläutern können, sind leider alle verstorben. Und was ich noch aus der Zeit als 10-Jähriger in Erinnerung habe, ist ja auch schon sehr verblasst oder durch andere Einflüsse verfälscht. Aber so ist es, wenn man zu lange wartet.

  2. Träumerle Kerstin schreibt:

    Das ist wirklich eine Reise in die Vergangenheit. Sehr schöne gepflegte Anlagen, und in der Schule alles so blitzblank und freundlich bunt. Da wird der Mann doch wieder zum Kind 🙂
    Liebe Grüße von Kerstin.

  3. Obwohl ich die Gegend nicht kenne, hast du deine Reise in die Vergangenheit sehr eindringlich beschrieben – vor allem als ihr aus Oberschlesien in die DDR gekommen seid. Wir waren im September mit dem WoMo im Osten unterwegs und ich fand unsere Reise sehr spannend. Übrigens berichte ich darüber auf meinem Blog. LG

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